EuGH: Verbraucherschutz – (k)eine Amtspflicht der Gerichte zur Prüfung missbräuchlicher Vertragsklauseln?

Die Richter in Luxemburg haben mit ihrem Urteil vom 11.03.2020 (Az.: C-511/17) entschieden, dass nationale Gerichte aufgrund der Richtlinie 93/13/EWG verpflichtet sind auch nicht explizit angegriffene Vertragsklauseln im Rahmen der sogenannten AGB-Kontrolle von Amts wegen zu prüfen, soweit ein Verbraucher die Missbräuchlichkeit einer einzelnen vertraglichen Regelung gerichtlich feststellen lassen will und weitere Klauseln im Zusammenhang mit der angegriffenen Regelung stehen.

 

Hintergrund dieser Entscheidung war ein Rechtsstreit zwischen einer ungarischen Bank und einer Kundin. Der von der ungarischen Bank zugrunde gelegte Vertrag räumte dieser das Recht ein, nachträglich die Vertragsbedingungen einseitig ändern zu dürfen. Diese Klausel wollte die Klägerin, unter Berufung auf die Richtlinie 93/13/EWG rückwirkend für unwirksam erklären lassen. Das vorlegende ungarische Gericht wollte den anzulegenden Prüfungsrahmen, im Licht der europäischen Richtlinie und im Spannungsverhältnis zu dem geltenden Dispositionsgrundsatz, nach welchem die Parteien den Streitgegenstand festsetzen und dem Grundsatz ne ultra petita, wonach das Gericht nicht über die Anträge der Parteien hinaus entscheiden darf, vom Europäischen Gerichtshof geklärt wissen.

 

Der Europäische Gerichtshof hat wiederholt betont, dass sich Verbraucher in einer schwächeren Position gegenüber Gewerbetreibenden befinden und sich der von der Richtlinie angestrebte Schutz nur durch positives Eingreifen unabhängiger (staatlicher) Stellen erreichen lasse. Unter Berücksichtigung des 21. Erwägungsgrundes der Richtlinie haben nationale Gerichte die Pflicht missbräuchliche Klauseln von Amts wegen zu prüfen, um auf diesem Wege dem bestehenden Ungleichgewicht Abhilfe zu leisten.

 

Diese Pflicht endet nach dem Europäischen Gerichtshof allerdings an der Grenze des von den Parteien zu bestimmenden Streitgegenstandes. Dieser ergibt sich aus den gestellten Klageanträgen und den vorgebrachten Gründen des zugrunde liegenden Lebenssachverhalts. Die Gerichte sind nach der Ansicht des Europäischen Gerichtshofes aber nicht verpflichtet, alle Vertragsklauseln aus dem streitigen Rechtsverhältnis von Amts wegen zu prüfen, sondern nur diejenigen, die mit dem Streitgegenstand in Zusammenhang stehen. Sie haben zur Beurteilung der Missbräuchlichkeit aber alle anderen Vertragsklauseln, sofern dies zur Prüfung der streitgegenständlichen Klausel erforderlich ist, zu berücksichtigen (aber nicht zu prüfen!), da sich die Bedeutung einer Klausel aus ihrem Zusammenhang erst ergibt. Notfalls haben die Gerichte auch erforderliche Untersuchungsmaßnahmen zu veranlassen.

 

Der Europäische Gerichtshof untermauert mit diesem Urteil den von der herrschenden Meinung vertretenen dualistischen Streitgegenstandsbegriff. Eine Stärkung der Position von Verbrauchern wird diese Entscheidung allerdings nicht herbeiführen können, da dies nahezu der heutigen deutschen Rechtslage entspricht. Die Gerichte sind nicht an die gestellten Anträge gebunden, sie haben die Anträge entsprechend dem Parteiwillen nach § 133 BGB analog unter Heranziehung des geschilderten Lebenssachverhalt auszulegen (vgl. BGH, Urteil vom 01. Juli 1975 – VI ZR 251/74). Neu ist die vom Europäischen Gerichtshof verlangte Ergreifung von Untersuchungsmaßnahmen, welche sich im Ergebnis aber wohl - mangels dem Gericht dahingehend zustehender Befugnisse – auf eine bereits in § 139 ZPO enthaltene Hinweis- und Prozessförderungspflicht beschränken werden wird.